Vietnam: Abreisegedanken

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Auf meine letzten Postkarten aus Hanoi habe ich geschrieben, dass ich Vietnam immer noch nicht so richtig zu fassen bekommen habe. Inzwischen frage ich mich, was das eigentlich heißen sollte. Was habe ich erwartet? Trotz der vielen Tage, die ich hier verbracht habe und all der Menschen, die ich getroffen habe, tue ich mich schwer damit zu sagen: „So ist Vietnam!“, zu unterschiedlich waren diese Menschen und zu unterschiedlich sind auch all die Regionen, die ich gesehen habe. Zu kurz war die Zeit, die ich hier als Besucher verbracht habe.

An der so engen, einseitigen offiziellen Erinnerungskultur habe ich mich gerieben; ebenso am prominent zur Schau gestellten Kommunismus, dessen Ideale für mich im Gegensatz zum maximalen Profitstreben stehen, das ich hier erlebt habe. Und daneben all die Schönheit, die es hier zu bestaunen gibt, und die Freundlichkeit der Menschen, denen ich näher begegnet bin. Ich wollte hinter die Fassaden sehen, wollte immer mehr von diesem Land, das es mir nur zögerlich gab.

Jetzt habe ich das Gefühl, an der Oberfläche gekratzt zu haben. Und das ist okay, denn immerhin: ich habe gekratzt. Ich habe eine vage Ahnung davon bekommen, wie einige Menschen in Vietnam ticken und was sie so ticken lässt. Das ist doch schon so viel mehr, als ich vor meiner Ankunft über das Leben hier wusste.

Selten wie hier habe ich die Sprachbarriere zwischen mir und anderen im Alltag als Sprachlosigkeit empfunden, zu verschieden schienen unsere Kommunikationsformen. Meine Gesten, meine Mimik, meine Handzeichen – oft fehl Platz. Und doch hat es immer irgendwie funktioniert, mich mit dem Nötigsten zu verständigen, das herauszufinden, was grade wichtig war.

Durch die Verknüpfung von wunderbaren Umständen und Menschen wurde mir eine Kulturerklärerin in mein Hanoier Leben gespült, die mir viele Türen zum Verständnis der Menschen hier öffnete. Was für ein Glückskeks ich doch bin! Und wie gesegnet mit Menschen ich bin und immer wieder werde – das wurde mir in Vietnam ein weiteres Mal bewusst.

Durch die Begegnungen in diesem Land und mit diesem Land ist meine Welt ein bisschen bunter, weniger schwarz-weiß geworden. Ich bin mir einiger meiner eigenen Stereotypen und Denkmuster bewusst geworden – ein erster Schritt zu ihrer Überwindung. Meiner sicheren Grundannahmen über mich und die Welt beraubt, habe ich das Gefühl, kritischer geworden zu sein und gleichzeitig offener. Wie soll ich noch einem Reiseführer vertrauen, der das Kriegsreste Museum in Saigon und das Frauenmuseum in Hanoi ausschließlich romantisch-verklärend beschreibt?

Ich habe das Gefühl mich von vorgegebenen Touristenwegen so weit entfernt zu haben, dass ich zurzeit nicht mehr gruppenkompatibel bin. Aber vielleicht erhole ich mich nur immer noch von meinem Ausflug in die Halongbucht. Inzwischen ist auch mein wunderbarer Zeit- und Reiseplan dahin, an den ich mich bisher immer noch so ungefähr gehalten habe, halten konnte. Aber wer macht schon Pläne? Auch das habe ich in Vietnam gelernt: planlos zu sein. 

Ich bin viel länger in Hanoi geblieben als vorgesehen und als ich endgültig aus meinem liebgewordenen Fast-Zuhause abreiste, hatte ich beim Blick aus dem Taxifenster tatsächlich kurz einen Klos im Hals. Die Vorstellung wieder aus dem Rucksack zu leben, alles bei jedem Ortswechsel mit mir rumzuschleppen, keinen Rückkehrort mehr zu haben, unterwegs zu sein, muss erst wieder an Attraktivität gewinnen. Aber das wird sie. Also auf zu neuen Abenteuern!



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