Als Kind fragte ich meinen Bruder einmal, welches denn der größte flugfähige Vogel der Welt sei. Als treuer Sielmann-Fan vermutete mein großer Bruder, dass das der Andenkondor sein könnte. Er kannte auch schon die Geschichten, dass Kondore angeblich Schafe jagen und auf meine Frage, ob sie wohl auch Kinder wegschleppen könnten, äußerte er den Verdacht, dass das wohl durchaus sein könnte. Vielleicht konnte ich mich ja mit einem Kondor befreunden und der würde mich dann durch die Lüfte tragen?
Inzwischen haben wir beide gelernt, dass der Wanderalbatros noch größer ist als der Andenkondor, aber das Gespräch von damals blieb mir lange in Erinnerung; sorgte es doch dafür, dass der Kondor ein Mythos für mich wurde. Als sich bei meiner großen Reise dann in Peru die Möglichkeit ergab, dass ich zum Colca Canyon fahren konnte, um die Giganten der Lüfte wirklich einmal am Himmel fliegen zu sehen, war ich sofort begeistert. Zwar glaubte ich inzwischen nicht mehr, dass sich ein Kondor mit mir befreunden und mich dann mit sich tragen würde, aber als ich frühmorgens im Bus saß, war ich tatsächlich aufgeregt.
So fühlte sich die Fahrt am wunderschönen Colca Canyon entlang sehr viel länger an, als sie wohl tatsächlich war. Doch auch der vorherige Anreisetag war beschwerlich gewesen und so wurde ich im Bus richtig hibbelig – und ein bisschen nostalgisch. Hätte ich jemanden zum Vollquengeln gehabt, hätte ich wohl gefragt: „Wann sind wir endlich da?“. Stattdessen versuchte ich, mich auf die schöne Landschaft zu konzentrieren und blickte immer wieder zum Himmel.
Dann hielt der Bus plötzlich auf offener Strecke an. Ich sprang sofort auf den Seitenstreifen. Tatsächlich: Ein Stück den Hang hinauf saß neben der Straße ein Kondor auf einem Stein. Mir stockte fast der Atem. Ich beobachtete ihn durch mein Fernglas und stellte schnell fest, dass dort zwei dicht zusammen saßen: eine Mutter mit ihrem Nachwuchs. Meine ersten freien Kondore!
Da diese beiden Vögel so gar nicht losfliegen wollten und die anderen sich langweilten, fuhren wir viel zu schnell weiter. Aber es war nicht mehr weit bis wir endlich an unserem eigentlichen Ziel dem Kondorkreuz ankamen. An dieser steilen Stelle der Schlucht haben gut zwanzig Kondore ihre Nester in die Felswand gebaut. Ich lief so nah zum Rand des Canyons wie ich konnte, setzte mich dort auf die Mauer und wartete andächtig.
Als der erste Kondor sich plötzlich in den Aufwinden aus der Schlucht nach oben steigen ließ, hüpfte mein Herz vor Freude. Der mächtige Kondor flog eine Schlaufe direkt über mir bevor er sich wieder in die Schlucht sinken ließ. Aber die nächsten ließen nicht lange auf sich warten. Diesmal waren es gleich zwei Kondore, die sich in die Lüfte erhoben. Manche Kondore segelten auch unter mir durch die Schlucht, so dass ich die weiße Zeichnung der Deckfedern, die bei älteren männlichen Kondoren besonders stark ausgeprägt ist, gut erkennen konnte.
Bei den nächsten zwei Kondoren, die dicht über mich hinweg flogen, war ich nicht mehr so überrascht und konnte den Wind in ihren Handschwingen rauschen hören. Immer mehr der großen Greifvögel stiegen in den Himmel über dem Kondorkreuz empor. Einmal zählte ich acht Tiere gleichzeitig, aber es könnten auch zehn gewesen sein, denn am Rander der steilen Schlucht war es unmöglich, in alle Richtungen den Überblick zu behalten. Und so vergaß ich das Zählen schnell und staunte nur still.
Als ich einem der Kondore, der direkt über mir flog, von unten in die Augen blickte, dachte ich an meinen kindlichen Traum vom Kondorflug. Auch wenn diese erste Begegnung anders war, als ich mir das als Mädchen heimlich gewünscht hatte, so waren die Momente, in denen ich die großen Geier so nah fliegen sah, doch voller Faszination und Glück.
Obwohl sich in den letzten zwanzig Minuten keine Kondore mehr in den Morgenhimmel aufstiegen, verging meine Stunde am Kondorkreuz viel zu schnell. Als ich zurück zum Bus ging, blickte ich mich noch ein paar Mal um, aber ich sah keine Kondore mehr fliegen. Auf der Fahrt nach Arequipa speicherte ich meine Erinnerungen an diese Begegnung neben meinem Traum von damals ab und fügte das Rauschen der Flügel hinzu. Wie gut es ist, einen großen Bruder zu haben!
Griesi
Den Andenkondor möchte ich auch noch treffen, dann kann ich ihn von seinem kalifornischen Bruber grüßen. Den traf ich in Utah. https://griesgram999.wordpress.com/2011/11/09/weiss-der-geier/
die abenteuerliche
Ui, eine großartige Kondor-Geschichte, Griesi. Ich war zwar auch schon mal im Zion, hab dort aber keine Kondore gesehen. Und du hast dir da ja sogar wirklich einen echten Freund angelacht. Ins Tal laufen musstest du aber trotzdem selbst, mpf.