​Halbzeitgedanken: Mein buntes Leben unterwegs

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Zugegeben: Es ist schon weit mehr als die Hälfte meiner Reisezeit um. Das zeitliche Bergfest habe ich verpasst – zumal ich ja auch nicht weiß, wann genau ich eigentlich zurück nach Deutschland komme. Ist ja auch egal. Da ich jetzt nach Australien auf einen anderen Kontinent weiterfliege, fühlt es sich zumindest nach halber Strecke an. Ab jetzt wird sich mein Reisetempo erhöhen und die Art meiner Erlebnisse verändern. Bis zu meiner geplanten Heimkehr im November ist meine Reise strukturiert und relativ durchgeplant. Ein ganz neues Gefühl und auch eine Zäsur für mich. Zeit für einen Blick zurück und eine Bestandsaufnahme der bisherigen Veränderungen und Einsichten:

Offen

In Bhandar in den Bergen Nepals hing in einer Gastwirtschaft am Busbahnhof ein Poster mit einem Spruch, den ich seitdem zu beherzigen versuche:

In search for the truth stop having opinions.
(Wenn du die Wahrheit suchst, hör auf, Meinungen zu haben.)

Ich lerne und erfahre viel mehr, wenn ich offen bin und wirklich rausfinden will, wie etwas ist und nicht die Bestätigung dessen suche, was ich mir schon zusammengereimt habe. Meine westlichen Vorstellungen von Ordnung, Moral, von Gut und Böse stehen mir dabei erstaunlich oft im Weg. In all den Ländern, die ich bisher bereist habe, findet man jedes seiner Clichés, wenn man will. Aber wenn man weiter, tiefer, länger, besser schaut, entdeckt man noch so viel mehr.

Bunt

Als ich mich mit Ronja und Bastian für unseren ersten gemeinsamen Abend verabredete, sagte Bastian, dass das mit dem Wiederfinden bestimmt kein Problem sei, wenn ich mich abends wieder genauso farbenfroh anziehen würde. Farbenfroh – ich? Ich blickte an mir herunter: Ich trug ein türkisgrünes T-Shirt und eine sandfarbene Hose. Dazu schwarze Schuhe. Okay, das T-Shirt war nicht schwarz oder weiß, aber farbenfroh? Dieses Adjektiv passte so gar nicht zu meiner Selbstdefinition, obwohl mir einfiel, dass ich im Alltag zu schwarz gerne mal eine knallige Farbe trage. Verrückt. Aber es stimmt auch irgendwie: Meine Reisegarderobe ist bunt, auch wenn mir das vorher noch nicht aufgefallen war. Und ich mochte die Idee, farbenfroh zu sein. Ich kann ab sofort nämlich alles sein, was ich will. Auch farbenfroh.

Merkwürdig

Bevor ich nach Kambodscha weiterreiste, sah ich den Film Cannibal Tours, der mir ans Herz gelegt worden war. Das Eingangszitat (für das ich keine ordentliche Quelle finden konnte) begleitete mich danach durch Südostasien:

There is nothing so strange in a strange land, as the stranger who comes to visit it.
(Es gibt nichts Merkwürdigeres in einem fremden Land als den Fremden, der es besucht.)

Ich war mir stets bewusst, dass all die Menschen, die ich treffe, deren Welt ich bestaune und deren Leben mir fremd ist, mich genauso merkwürdig finden wie ich sie. Ich bin die Exotin, die in ihre Normalität hereinbricht und langweilige Alltäglichkeiten außergewöhnlich findet. Und merkwürdig finden sie mich wirklich: eine Frau – so weiß, so groß, so allein unterwegs. Dieses Bewusstsein für mich, meine Rolle als Reisende und auf die Welt hat mir gut getan.

Allein

„Only one?“ werde ich fast täglich gefragt. „Yes, one is more than enough“ antworte ich dann meistens. Es ist wunderbar, mich immer dabei zu haben, denn ich bin gerne mit mir zusammen. An den allermeisten Tagen fehlt mir nichts und ich genieße die Freiheit, mich mit niemandem abstimmen oder absprechen zu müssen, genau das machen zu können, was ich will, spontan sein zu können. Ich hatte erwartet, dass ich mich selbst mehr nerve, aber dem ist nicht so; und wenn, bin ich sehr nachsichtig und geduldig mit mir und meinen Macken.

All dies geht bestimmt nur so gut, weil ich in meiner Hosentasche ein kleines, feines Team von Abenteuerteilerinnen und Gefühlsstabilisierern sitzen habe. Menschen, die mich mental begleiten und denen ich im Notfall all meine Erlebnisse und Gedanken ungefiltert vor die Füße kippen kann. Ich weiß ganz genau und fühle es bei jedem Atemzug: Ich bin gar nicht allein.

Außerdem machen sich neue Menschen in mir breit. Menschen, die ich unterwegs treffe und im Herzen behalte, und auch Menschen allgemein. Regte sich schon als Jugendliche Widerstand in mir, als ich Anne Franks Satz „Ich glaube an das Gute im Menschen“ las, so bin ich inzwischen bereit, diese Grundhaltung für mich zumindest in Erwägung zu ziehen. Ich bin zwar immer noch wachsam, aber nicht mehr so misstrauisch wie früher. So mag ich mich.

Nass

Wenn man mich vor der Reise gefragt hätte, wovor ich am meisten Angst hatte, hätte ich gesagt: vor meinem Timing. Weil ich zu einer bestimmten Zeit in Tonga sein will und nicht kreuz und quer über den Globus springen, sondern um die Erde herumreisen will, war ich zeitlich festgelegt. Das bedeutet, dass ich im südlichen Afrika die Regenzeit erwischte, in Nepal die klare Sicht auf die Gipfel verpasste, in Südostasien erst das heiße Ende der Trockenheit und dann den Monsun erlebte, in Indonesien dann in die Hochsaison stolperte, mir Winter in Australien bevorsteht und mich dann die Hurrikan-Saison in Mittelamerika erwartet (wobei ich letztere wohl ausfallen lasse).

Diese Aussichten haben mir vorher wirklich Angst gemacht. Aber erstens bin ich keine Schönwetterreisende, sondern kenne und kann auch Schnee, Kälte und Regen, und zweitens ist das alles bisher gar nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Okay, zugegeben: Ich hatte auch viel Glück mit dem Wetter und besonders mit dem Monsun. Inzwischen glaube ich, mein Timing hat mir sogar geholfen, besseren Zugang zu den einzelnen Ländern und den Menschen zu bekommen.

Treu

Verblüfftend finde ich, wie lange Dinge halten, die nur für den Anfang gedacht waren: die mini Tube Zahnpastakonzentrat, der Rest meiner Gesichtssonnencreme, die kleine Flasche Shampoo. Fast alles noch da. Mit Socken hab ich dafür Pech: Ich musste schon vier Paar nachkaufen, die es auch nicht lange getan haben.

Treu begleiten mich auch die einzelnen Schuhe am Wegesrand durch die Welt und lassen mich immer noch staunen und ratlos zurück. Wenn irgendjemand mal einen einsamen Schuh in Deutschland rumliegen sehen würde, täte das meinem Weltbild wirklich gut.

Reich

Mein Leben lang habe ich Geld gespart und neues verdient. Jetzt einfach mal welches auszugeben, ohne dass neues reinkommt, ist ein bisschen beängstigend. Und für meine Verhältnisse erstaunlich leicht. Ich weiß, dass diese Reise die beste Investition ist, die ich tätigen kann. Ich investiere hier in mich und in mein Glück. In meine persönliche Entwicklung, in meinen Entdeckungsdrang, mein Fernweh, meine Erinnerungen, meine Abenteuerlust, meine Neugier auf die Welt. Wenn ich zurückblicke, auf all das, was ich bisher schon gesehen, erfahren und erlebt habe, weiß ich: Diese Investition zahlt sich schon jetzt aus.

Genug

Die auffälligste Veränderung an mir und meiner Reise-Einstellung ist, dass ich nicht mehr das Gefühl habe, etwas zu verpassen. Wenn ich unterwegs etwas nicht sehe, irgendwo nicht hinkomme, etwas nicht probiere, ist das okay, selbst wenn es ein Weltwunder, ein Kulturerbe oder ein vermeintliches „Muss“ sein sollte. Ich weiß, dass die Welt noch viele andere Wunder und Erlebnisse für mich bereithält. Was ich haben, sehen und erleben darf, ist ein Geschenk. Und es ist genug.



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2 Antworten

  1. Sandra

    Einzelne Schuhe? Sehe ich wirklich oft, auch in Deutschland. Vor zwei Wochen beim Wandern tauchte ein paar hundert Meter weiter dann tatsächlich doch noch das Gegenstück dazu auf. Ich wünsche dir eine abenteuerliche zweite „Halbzeit“ in down under! 🙂

    • die abenteuerliche

      Tse, sieht man mal, wie meine Wahrnehmung so funktioniert. Danke für diese Bewusstseinserweiterung und die guten Wünsche.